Schleswig und Holstein in der Zeit des Kondominiums

Für Barmstedt und die Administratur der Grafschaft Rantzau war durch den deutsch-dänischen Krieg mit dem Wiener Frieden vom 30.10.1864 eine völlig neue politische Situation entstanden. Die dänische Herrschaft in den Herzogtümern war beendet, gleichzeitig war aber durch die Zwangsverwaltung des Deutschen Bundes über Holstein und die deutsche Annektion Schleswigs eine neue staatsrechtliche Situation entstanden, die recht unklar war. Die gesamte zukünftige Richtung der deutschen Politik stand unter dem Vorbehalt, dass die Rivalität der beiden Führungsstaaten Preußen und Österreich-Ungarn gelöst werden musste. Der Deutsche Bund umfasste ursprünglich (1815) 34 Fürstentümer und 4 freie Städte, hatte jetzt noch 35 Mitglieder. Beide Großmächte besaßen Territorien, die nicht zum Deutschen Bund gehörten. Bismarck strebte für Preußen die kleindeutsche Lösung an, also die Vereinigung der deutschen Staaten unter Ausschluss Österreichs bei preußischer Führung. Österreich dagegen strebte die großdeutsche Lösung an, eine Vereinigung aller deutschsprachigen Länder unter österreichischer Führung. Diesem Ziel entsprach die Vorstellung eines unabhängigen Herzogtums Schleswig-Holstein unter dem Augustenburger Herzog Friedrich VIII. Bismarck, der preußische Ministerpräsident, verfolgte dagegen das Ziel einer Einverleibung des Gebietes in das preußische Königreich.

Ansichtskartenausschnitt vom Barmstedter Marktplatz (ca. 1902) mit dem Spritzenhaus auf der linken Seite und der Remise für den Leichenwagen der Schuhmacherzunft (seit 1868), in der Mitte folgt prächtig die Turnhalle und rechts der Barmstedter Hof, dahinter das Hotel Holsteinischer Hof. Dieses Haus wurde erst 2004 abgerissen zugunsten der Durchgangsstraße von der Königstraße zur Marktstraße.

Zur Überbrückung dieser Zeit des Provisoriums einigten sich beide Mächte auf ein Kondominium, also eine gemeinsame Verwaltung der beiden Herzogtümer durch Preußen und Österreich. Das bedeutete, dass zwei Zivilkommissare als Aufseher über die gemeinsame Regierung wachten, die zunächst in Kiel, dann in Schleswig saß.

Auf diplomatischer Ebene erhob Bismarck zunächst nur die Forderung nach Kanalschlössern am Eider-Kanal zur Absicherung der Verbindung zwischen den ostelbischen und rheinischen Territorien, Aufnahme Schleswig-Holsteins in den Zollverein und Militär- sowie Post- und Telegraphiehoheit an Preußen. Diese Fragen wurden zunächst in einem Kompromiss im Vertrag von Gastein am 14.08.1865 geklärt. Von jetzt an wurde Schleswig vom preußischen Gouverneur von Manteuffel und Holstein vom österreichischen Statthalter von Gablenz regiert. Rendsburg wurde Bundesfestung, Kiel Bundeshafen. Das Herzogtum Lauenburg fiel gegen eine Entschädigungssumme für Österreich an Preußen. Preußen verlegte jedoch sehr bald seine Marinestation von Danzig nach Kiel, also in den Bundeshafen und reizte damit Österreich. Für Preußen wiederum war es ein Ärgernis, dass der Augustenburger und seine Parteigänger in Holstein frei agieren konnten. (Degn, S. 246)

Adolph von Moltke, der Administrator auf Rantzau, hatte als könig-herzoglicher Administrator dem dänischen König 1852 noch einen Eid geschworen und war nun von den neuen Verhältnissen überrannt worden, er befand sich damit in einer unsicheren Lage. Sein Bruder, der inzwischen berühmte preußische Generalstabschef Helmuth von Moltke, hielt ihn von einem Rücktritt ab und stützte seine Position als führender Beamter. Ein Rücktritt hätte den Verlust aller Einnahmen und damit – wegen fehlenden Eigentums – den Verlust des bisherigen Lebensstandards bedeutet – und der war nicht unerheblich und verursachte Kosten, z. B. für die sechs Kinder. Wilhelm (17) und Helmuth (16) waren inzwischen auf dem Christianeum in Altona, Marie (15), Friedrich (11), Ludwig (9) und Louise (8) wurden auf der Schlossinsel von Hauslehrern unterrichtet. (Jessen, S. 189)

Das Fahrrad wurde ab 1865 als Hochrad entwickelt und diente zunächst als Sportgerät und als „Vehikel der Emanzipation“, wurde dann zum vorherrschenden „Verkehrsmittel des Individualverkehrs für den, der sich Kutsche, Pferd und Wagen nicht leisten konnte.“ (Lange 1996, S. 61)

In den Jahren 1863/64 wurde ein Barmstedter Turnverein gegründet, auf den sich der heutige BMTV (Barmstedter Männer-Turnverein von 1864 e. V.) zurückführt. Es ist anzunehmen, dass unter dem damaligen „Turnen“ nicht nur die heutige Sparte Turnen zu verstehen war, da nach der Tradition von „Turnvater Jahn“ darunter ein „umfassendes Konzept [zu verstehen war] von im Alltag und im Krieg nützlichen Bewegungsaktivitäten. Dazu zählten zahlreiche Übungen an Geräten, sogenannte volkstümliche Übungen wie Laufen, Springen und Werfen, Klettern oder Fechten, Voltigieren, Ringen, Schwimmen und Spiele.“ In vielen anderen Gegenden Deutschlands entstanden in den 1860er Jahren mit der wiedererstarkenden Nationalbewegung Turnvereine, die nach dem Scheitern der demokratischen Revolution von 1848 verboten worden waren. Leider ist wenig bekannt über die frühen Jahre in Barmstedt, aber wahrscheinlich ist, dass das Vereinsleben schon nach wenigen Jahren zunächst wieder zum Erliegen kam. In den Schulen Preußens dagegen war Turnen schon festes Unterrichtsfach geworden und diente mit dem vorherrschenden Drill neben der Körperertüchtigung auch der Erziehung zum Untertanen.

„Deutscher Krieg“ von 1866 und die preußische Annektion Holsteins und Schleswigs

Am 1. Juni 1866 beantragte Österreich beim Deutschen Bund, die Zukunft der Herzogtümer dessen Beschlussfassung zu überlassen, und ließ gleichzeitig die holsteinische Ständeversammlung einberufen. Nicht nur dieses forderte Preußen heraus, sondern Österreich ließ auf holsteinischem Gebiet auch eine Art Nebenregierung des Herzogs Friedrich VIII. von Schleswig-Holstein-Augustenburg zu. Deshalb konnte Bismarck einen Bruch der Gasteiner Konvention mit der Festlegung auf ein Kondominium feststellen und ließ am 9. Juni die preußischen Truppen unter Manteuffel von Schleswig her einmarschieren. Österreich beantragte daraufhin die Mobilisierung von Bundestruppen gegen Preußen beim Deutschen Bund. Dieser stimmte zu, woraufhin Preußen den Bund für aufgelöst erklärte.

In diesem sog. Deutschen Krieg kämpften u.a. Hamburg und Mecklenburg-Strelitz, aber auch Italien auf preußischer Seite, Hannover und Bayern auf österreichischer. Die strategische Leitung in Preußen hatte Helmuth Graf von Moltke, Bruder des Barmstedter Administrators. In der Schlacht bei Königgrätz in Böhmen siegten schließlich die Preußen. Durch den preußischen Sieg konnte auch Italien in seinem dritten Unabhängigkeitskrieg das umkämpfte Venetien von Österreich erhalten. Es fehlte zur territorialen Vollständigkeit nur noch der Kirchenstaat auf dem Stadtgebiet von Rom, der von französischen Truppen für den Papst geschützt wurde.

Der Deutsche Bund von 1815

Der Sieg machte sowohl Bismarck und Wilhelm I. als auch Moltke berühmt und populär in nationalliberalen Kreisen. Bismarck gab jetzt offen zu, mit der Heeresreform die Verfassung gebrochen zu haben, was zur Spaltung der nationalen Bewegung führte. Aus denjenigen, die nachträglich zustimmten, entstand die Nationalliberale Partei, v.a. unterstützt von Industriellen, Bankiers und protestantischen Bildungsbürgern. Die anderen, „die Freiheit vor Einheit stellten, sammelten sich in der Deutschen Fortschrittspartei. Moltke erhielt vom König die höchste Auszeichnung, den Schwarzen Adler, und 200.000 Taler Dotation. Mit diesen Mitteln konnte er ein Gut kaufen, das er schließlich 1867 mit dem Rittergut Kreisau in Schlesien fand.“ (Jessen, S.187f)

Im Frieden von Prag vom August 1866 konnte Bismarck durchsetzen, dass Österreich auf alle Ansprüche an Schleswig-Holstein verzichtete. Außerdem hatte Österreich Venetien an Italien abzugeben und seine Verbündeten, das Königreich Hannover, Nassau, Hessen-Kassel und Frankfurt, wurden von Preußen annektiert. Bayern und Sachsen gerieten unter preußische Bevormundung. Preußen gründete als Ersatz für den Deutschen Bund am 18.08.1866 den Norddeutschen Bund. Durch die Gründung dieses ersten deutschen Bundesstaats wurden Österreich, Liechtenstein, Luxemburg und Niederländisch-Limburg endgültig aus dem Prozess der Nationalstaatsbildung herausgedrängt.

Mit einem Annexionspatent des preußischen Abgeordnetenhauses und dem Besitzergreifungspatent König Wilhelm I. vom 12. Januar 1867 wurde Schleswig-Holstein zur preußischen Provinz gemacht. In den Deutschen Zollverein wurde entsprechend jetzt auch Schleswig-Holstein aufgenommen. Die Hansestädte Hamburg, Lübeck und Bremen traten erst 1888 bei. Im Februar 1867 kam es zur ersten Wahl zum Verfassunggebenden Norddeutschen Reichstag. Wahlberechtigt waren alle Männer ab 25, die die vollen Bürgerrechte besaßen und keine Armenunterstützung erhielten.

Barmstedt – ein Flecken in der preußischen Provinz Schleswig-Holstein

Bürgermeister Hermann Diedrich Greve (1868-1881), Brauereibesitzer

Die Verwaltung in der neuen Provinz wurde umfassend reformiert. Die bisherigen antiquierten gesamtstaatlich-dänischen Strukturen wurden durch die preußischen ersetzt, die den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Wandlungsprozess der Industrialisierung schon stärker aufgenommen hatten. Kritik wurde von der Berliner Regierung unterdrückt. V. a. der preußischen dreijährigen Wehrpflicht entzogen sich viele junge Männer durch Auswanderung nach Amerika. (Bohn, S. 95) Verwaltungszentrum wurde Schleswig. Der preußische Oberpräsident beaufsichtigte die hier angesiedelte Provinzialregierung. Unterhalb der Regierung wurden 20 Kreise mit Landräten an der Spitze und Kreistagen als beratende Körperschaften eingerichtet. Damit verschwanden die Ämter, Administraturen, Harden, Gutsbezirke usw. Die Selbstverwaltung der Gemeinden und Städte wurde durch eine liberalere Gemeindeordnung gestärkt.

Im Zusammenhang mit der Verwaltungsreform änderten sich auch eine Reihe von Bezeichnungen. Im Flecken Barmstedt wurde jetzt aus dem Fleckensgevollmächtigten der Bürgermeister. Dieser versah sein Amt aber wie bisher ehrenamtlich und von zu Hause aus. Der letzte Fleckensgevollmächtigte war Nicolaus Springer gewesen. Er hatte dieses Amt seit 1863 ausgeübt. Sein Nachfolger ab 1868 war jetzt der Bürgermeister Hermann Diedrich Greve, im Hauptberuf Brauereibesitzer.

Auf dem Lande wurden aus den bisherigen Vogteien politische Gemeinden, die wiederum in Amtsbezirken zusammengefasst wurden. Die Kreisordnung bestimmte deren Pflichten und Rechte. Im Kirchspiel Barmstedt entstanden 1889 drei Amtsbezirke: 1. Lutzhorn mit Lutzhorn, Groß Offenseth, Klein Offenseth, Bokholt, Forstgutsbezirk Rantzau, 2. Hemdingen mit Hemdingen, Langeln, Heede und Bilsen und 3. Bevern mit Bevern, Ellerhoop, Seeth-Eckholt, Kölln-Reisieck und Bullenkuhlen. 1948 wurden diese Bezirke wieder aufgelöst und neu zusammengefasst, wodurch das heutige Amt Rantzau mit den Gemeinden Bevern, Bilsen, Bokholt-Hanredder, Bullenkuhlen, Ellerhoop, Groß Offenseth-Aspern, Heede, Hemdingen, Langeln und Lutzhorn entstand.

Die ab dem 1. Oktober 1867 geltende preußische Verfassung hatte der ehemalige dänische Administrator Moltke schon ab Oktober 1866 Schritt für Schritt umzusetzen. Er übte zunächst weiter sein Amt auf Rantzau aus und vollzog preußische Gesetze wie die Trennung von Justiz und Verwaltung, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, preußische Steuergesetze und die Wahlen zum ersten Kreistag. Gegen einige dieser Neuerungen gab es teilweise erheblichen Widerstand der Bevölkerung.

Die Kreistage und Stadtverordnetenversammlungen hatten nach der preußischen Verfassung einen Provinziallandtag mit sehr eingeschränkten Rechten mit Delegierten zu beschicken.

Eiskeller für die Barmstedter Brauerei

Eisgewinnung auf den Krückauwiesen

Auf dem Gelände der Dienstgärten der Gerichtsbeamten ließ sich 1866 der Bauer und Brauer Peter Grelck vom preußischen Finanzministerium in Berlin einen Eiskeller genehmigen. Das Eis wurde im Winter auf den überschwemmten Wiesen der Krückauniederung „geerntet“ und in einer überdachten Grube eingelagert.

1868 Ende der Grafschaft Rantzau – Start für den Kreis Pinneberg

Herrenhaus auf der Schloßinsel – bis 1867 Wohnung der Administratoren der Grafschaft Rantzau, ab 1868 Wohnung der Amtsrichter. Foto: Bernhard Theilig

Die für Barmstedt wichtigste Änderung war die Aufhebung der Rantzauer Administratur, die bisher zuständig gewesen war für die Grafschaft Rantzau. Sie wurde zusammen mit der Herrschaft Pinneberg, dem Kloster Uetersen (mit Ausnahme des Gutes Horst und der Vogtei Krempdorf), den Adligen Gütern Haseldorf, Haselau und Seestermühe und dem Kanzleigut Flottbek in den neu gebildeten Kreis Pinneberg einbezogen. Für den Posten des zukünftigen Landrats kamen die beiden bisherigen Oberbeamten Moltke (65) und der bisherige Pinneberger Landdrost Friedrich Graf von Baudessin (46) in Frage. Trotz seines Alters schlug der Oberpräsident Scheel-Plessen – wohl auch unter dem Druck von dessen inzwischen einflussreichen Bruder, dem Generalstabschef, – Adolf von Moltke vor, so dass dieser mit Wirkung vom 6. April 1868 sein Amt als Landrat antreten konnte und mit seiner Frau nach Pinneberg in die Drostei umzog. Da Residenzpflicht herrschte, bewohnte er zunächst das Palais mit 25 Räumen, was er sich nur leisten konnte, weil er als ehemaliger dänischer Administrator auch weiterhin mehr als doppelt so viel verdiente wie ein normaler Landrat.

Das neues Amtsgerichtsgebäude von 1863

Die Trennung der Rechtsprechung von der Verwaltung sollte Rechtsgleichheit für alle Untertanen herstellen. Das hatte v.a. Folgen für die Vorrechte der adligen Gutsbesitzer, die bisher ebenso wie die oberen Beamten fast alle Hoheitsrechte für ihren Bezirk in ihrer Person vereinten. Die Provinz Schleswig-Holstein wurde in 70 Amtsgerichts- und 3 Landgerichtsbezirke aufgeteilt mit einem Oberlandesgericht.

Neues Amtsgericht auf der Schloßinsel: Moltke war jetzt zwar als Landrat für einen wesentlich größeren Bezirk zuständig, aber nur noch oberer Beamter der Verwaltung. Das bisher von ihm ebenfalls ausgeübte Richteramt ging auf einen neu einzusetzenden Amtsrichter über, der in dem gerade 1863 neu errichteten Gerichtsgebäude auf der mittleren Schlossinsel wahrscheinlich den damals modernsten Gerichtssaal in Schleswig-Holstein zur Verfügung hatte, denn als Ersatz für die bisherige staatliche Funktion wurde auf den Schlossinseln jetzt eines der 70 Amtsgerichte eingerichtet. Der Amtsrichter wohnte fortan in dem ehemaligen Wohngebäude des Administrators.

Moltke ging bereits am 1. Juni 1870 in den Ruhestand. Er wollte, nachdem sich mit dem Beginn des Krieges gegen Frankreich das entstehende Deutsche Kaiserreich abzeichnete, für ein Reichstagsmandat der Konservativen Partei kandidieren. Er machte zunächst aber mit seiner Frau noch einen Besuch bei seinem Bruder auf Gut Kreisau und dann Urlaub in Lugano, wo er am 7. April 1871 starb. Seine Beerdigung fand „unter großer Beteiligung der Bevölkerung“ in Barmstedt auf dem neuen Friedhof „Auf der Ohe“ (heute Moltkestraße) statt (Mosler; Jessen, S.190).

Deutsch-französischer Krieg 1870/71

Straßenkampf in Pont-Neyelles im Dezember 1870

Nationalistische Zuspitzung der Krise zwischen Preußen und Frankreich: Im Sommer 1870 kam es durch eine Thronfolgefrage in Spanien zu einer internationalen Krise, die Bismarck nutzte, um seine Pläne einer deutschen Reichsgründung der Fürsten unter preußischer Führung zu verwirklichen. Die französische Regierung unter Napoleon III. versuchte unter Androhung von Krieg den Erbprinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen, einen Verwandten des preußischen Königshauses, dessen Kandidatur Bismarck betrieben hatte, zu verhindern, was zunächst auch durch dessen persönlichen Verzicht gelang. Als jedoch zuätzlich gefordert wurde, Wilhelm I. solle auch in Zukunft auf den Thron verzichten, und der König, der sich auf einem Kuraufenthalt in Ems befand, Bismarck dieses telegrafieren ließ, nutzte der diese Emser Depesche, indem er sie verkürzte, zuspitzte und dann veröffentlichen ließ. Sowohl die deutsche als auch die französische Presse machten erwartungsgemäß aus der diplomatischen Angelegenheit jeder für sich eine Frage der Demütigung der ganzen Nation. Der Nationalismus wurde jetzt zum ersten Mal auch in Deutschland zu einer fast mystischen massenhaften Bewegung, die Hass auf die Franzosen mit Opferbereitschaft im Krieg verband und die süddeutschen ebenso wie die norddeutschen Länder erfasste. Als die Pariser Regierung am 19. Juli 1870 Preußen den Krieg erklärte, war die Unterstützung nicht nur der Fürsten, sondern auch der Massen für Preußen keine Frage mehr. Allerdings gab es in süddeutschen Ländern aus einzelnen Parteien Widerstand gegen diesen Krieg, der aber keine Wirkung hatte. (Mommsen, S.94ff, Jessen, S. 196f)

Moltke hatte den Feldzug lange geplant, die Truppen waren gut vorbereitet und die ersten Wochen dieses Krieges waren in den Schlachten bei Metz und Sedan trotz hoher Verluste für die deutschen Verbündeten siegreich. Napoleon III. wurde gefangen genommen, woraufhin in Paris das Kaiserreich stürzte und die neue republikanische Führung den Krieg noch monatelang mit Volksarmeen unter Gambetta weiterführte. Bismarck konnte durch seine Diplomatie erreichen, dass die französische Regierung keinerlei Unterstützung aus dem Ausland erhielt, geriet allerdings mit dem Generalstabschef Moltke in Streit wegen dessen unautorisierter Verhandlungsführung mit dem Pariser Verteidigungsrat. Ende Januar 1871 kapitulierte Paris. Eine Folge u.a. davon war, dass die französischen Truppen aus Rom abzogen, so dass diese Stadt jetzt zur Hauptstadt des neu gegründeten Italiens werden konnte. In den Friedensverhandlungen musste Frankreich das Elsaß und einen Teil Lothringens abgeben, dazu die ungeheuerlich hohe Summe von 5 Milliarden Franc als Kriegsentschädigung, wobei bis zur endgültigen Zahlung Teile Nordost-Frankreichs von deutschen Truppen besetzt blieben. Der Friedensvertrag wurde im Mai 1871 in Frankfurt unterzeichnet.

Reichsgründung und Bismarck-Ära

Das wichtigste Ergebnis des Krieges war die Gründung des „Deutschen Reichs“ als kleindeutsche Lösung unter preußischer Führung, das Kaiserreich. Besonders aus Bayern hatte es Widerstand gegen diesen Plan gegeben. Allerdings konnte Bismarck die Verhandlungen schon bis November 1870 mit den vier süddeutschen Ländern für deren Anschluss an den Norddeutschen Bund zum Abschluss bringen, wobei Bayern einzelne partikularistische Sonderinteressen durchsetzen konnte, die preußische Hegemonie aber nicht in Frage stand (Mommsen, S. 99). Die Kaiserproklamation fand am 18. Januar 1871 in Versailles statt, also noch vor der Kapitulation der Pariser. Die Fürsten waren angereist und der badische Großherzog brachte ein Hoch auf „Kaiser Wilhelm“ aus, was diesen stark erzürnte, da er den Titel „Kaiser von Deutschland“ befohlen hatte.

Am 16. April 1871 trat die neue Reichsverfassung in Kraft, die im Grunde die erweiterte Verfassung des Norddeutschen Bundes war. Souverän war nicht der Kaiser, wie die allgemein übliche Bezeichnung vermuten ließe, sondern der Bundesrat, in dem Preußen keine Mehrheit hatte. Da aber das Amt des Kaisers an die Person des preußischen Königs gebunden war, ebenso wie das Amt des Reichskanzlers mit dem des preuß. Ministerpräsidenten, wurde so die preußische Hegemonie politische Wirklichkeit trotz des föderativen Charakters der Verfassung. Zudem war Bismarck der einzige Minister, die einzelnen Abteilungen wurden unter ihm von Staatssekretären geführt. Das demokratische Element wurde durch den Reichstag gebildet, für den ein allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht galt. Allerdings waren nur männliche Deutsche über 25 Jahren wahlberechtigt, was 19,4% der damaligen Bevölkerung entsprach. Es galt ein reines Mehrheitswahlsystem, d.h. nur der Kandidat eines Wahlkreises mit der höchsten Stimmzahl war gewählt.

Erste Reichstagswahl in Holstein: In der ersten Reichstagswahl siegte im Wahlkreis Pinneberg/Segeberg interessanterweise der „Partikularist“ Jensen, ein Vertreter der antipreußisch eingestellten Deutsch-Schleswig-Holsteinischen Partei, die ein Gemisch aus augustenburgischen,demokratischen und sozialdemokratischen Forderungen aufstellte: Aufhebung der preußischen Annexion; Einführung von Volksmilizen (gemeint sind die Kampfgenossenschaften von 1848); volle Selbstverwaltung in der politischen und kirchlichen Gemeinde; Linderung von Not und Elend durch soziale Reformen. Diese „Landespartei“ erhielt allerdings nur 2 von 10 schleswig-holsteinischen Mandaten. Der Abgeordnete Jensen hatte in der schleswig-holsteinischen Interimsregierung 1848-52 mit Moltke zusammengearbeitet.

Für den Preußischen Landtag, also auch in der Provinz Schleswig-Holstein, galt aber weiterhin das höchst undemokratische Dreiklassenwahlrecht, das der 1. Klasse der Wahlberechtigten mit dem höchsten Steueraufkommen (4% im Jahr 1908) genauso viele Abgeordnete zubilligte wie der 3. Klasse (82%), zudem waren die ostelbischen Wahlbezirke der konservativen Junker stark überrepräsentiert.

Der Boom der Gründerzeit: Ökonomisch fiel die Reichsgründung in die Gründerzeit, eine Zeit rasanten wirtschaftlichen Aufschwungs in ganz Europa, in der viele Unternehmer und Bankiers, v. a. dank des Eisenbahnbaus sehr schnell zu großem Reichtum gelangten. In Deutschland wurde dieser Boom durch die Reparationszahlungen Frankreichs, den größeren zusammenhängenden Wirtschaftsraum durch den Wegfall der Grenzen im Reich und das Freiwerden industrieller Kapazitäten nach einer Phase der Kriegsproduktion noch verstärkt. Eine einheitliche Währung, die Mark wurde eingeführt, wodurch 119 verschiedene Münzsorten der bisherigen Staaten abgeschafft waren. Die Prägung dieser Menge an Goldmünzen war nur möglich durch die Verwendung des französischen Goldes. Von den 5 Mrd. Franc flossen 2,5 bis 3 Mrd. direkt in den deutschen Kapitalmarkt. Papiergeld war noch kein gesetzliches Zahlungsmittel. Außerdem war 1870 die Konzessionspflicht für Aktiengesellschaften abgeschafft worden, was zusammen mit der 1869 eingeführten Gewerbefreiheit und der Weltkonjunktur zu einem beispiellosen Aufschwung auch in Deutschland führte.

Strukturwandel und starke wirtschaftliche Entwicklung auch in Schleswig-Holstein: Die 1867 eingeführte preußische Gewerbefreiheit auch in Schleswig-Holstein und wirtschaftliche Freizügigkeit führten zusammen mit der Verdichtung des Eisenbahnnetzes zu einer verstärkten Industrialisierung des Landes. Zahlreiche Zulieferbetriebe entstanden und ein sich entfaltendes Bankensystem führte zur Finanzierung von einer Vielzahl von Aktiengesellschaften in den Bereichen Eisenverarbeitung, Bauwirtschaft und Maschinenbau. Hierbei war v.a. der Bau des Nord-Ostseekanals in den 1880 und 90er Jahren von Bedeutung. In der Landwirtschaft schritt die Mechanisierung durch das Genossenschaftswesen voran, da jetzt die Dampfmaschine gemeinschaftlich eingesetzt werden konnte. Die Produktion wurde zusätzlich durch den Einsatz des gerade erfundenen Kunstdüngers gesteigert, so dass eine Nahrungs- und Genussmittelindustrie entstehen konnte. Dampfmeiereien gab es bald in jedem Dorf, was wiederum dazu führte, dass immer mehr Bauern auf Milchviehhaltung umstellten. Eine wichtige Begleiterscheinung war zudem die flächendeckende Ausbreitung von Betrieben, die sich auf die Mechanisierung der Landwirtschaft spezialisierten. Als Folge davon sank der Anteil der in der Landwirtschaft Tätigen von 50 % im Jahre 1867 auf ein Drittel am Ende des Jahrhunderts. Viele der „Freigesetzten“ zogen vom Land in die sich immer stärker industrialisierenden Städte (Urbanisierung), v.a. Altona, Neumünster und Kiel, doch die Auswanderung nach Übersee, v.a. nach Nordamerika, wurde zu einer Massenbewegung. Bis 1900 verließen über 200.000 Schleswig-Holsteiner auf diesem Weg ihre Heimat. (Bohn, S. 97)

Schwarzer Freitag vor der Börse in Wien

Gründerkrach: Die Spekulationswelle führte allerdings schon 1873 zum Gründerkrach, zur ersten weltweiten Finanzkrise durch einen Börsencrash. Von 1871 bis 1873 waren in Preußen 928 Aktiengesellschaften gegründet worden, gegenüber 88 in den Jahren 1867 bis 70. 61 neue Banken waren gegründet worden. Die Euphorie hatte zu Überkapazitäten, Überproduktion, leichtfertiger Kreditvergabe und einer Spekulationsblase geführt, die ein Sinken der Aktienkurse, Zahlungsschwierigkeiten, Pleiten zur Folge hatte und einen Rückzug privater Anleger aus der Börse. Die Krise ging von der Wiener Börse aus, als am 9. Mai 1873, einem Freitag, allein 120 Firmen in Konkurs gingen, die Kurse stürzten von durchschnittlich 180 Gulden auf 10. Im Sommer erfasste die Krise London und New York, im Oktober auch Berlin. „Aufgrund der entstandenen Geldknappheit am Kapitalmarkt folgte ein weitreichender Zusammenbruch von Börsen-, Aktien- und Spekulationsunternehmen. Von 843 nach 1870 neu gegründeten Aktiengesellschaften standen 1874 bereits 120 in Liquidation, 37 hatten Konkurs angemeldet.“ (vgl. DHM). Die Folge war eine Wirtschaftskrise in Form einer konjunkturellen Stagnation oder Schrumpfung, häufig Depression genannt. In Deutschland gab es bis 1879 kein Wachstum mehr. Besonders betroffen war die Schwerindustrie, der Maschinenbau und das Baugewerbe. Massenentlassungen und Pleiten führten zu einer sozialen Notlage vieler Menschen. Zum Schutz der heimischen unter Preisdruck geratenen Industrie und Landwirtschaft verhängte das Deutsche Reich wie auch andere Länder ab 1879 Schutzzölle. Nach und nach kam es zu einer wirtschaftlichen Konsolidierung, wobei die Lebenshaltungskosten durch Preissteigerungen stiegen, ohne dass entsprechende Lohnerhöhungen für die arme Bevölkerung das ausglichen.

Arm und Reich im Kaiserreich

Emigranten gehen in Hamburg an Bord eines in die USA fahrenden Dampfers (um 1850)

Soziales Elend in den Großstädten als Folge der Urbanisierung machte die soziale Frage zu einem beherrschenden Thema der Innenpolitik. Die Arbeiterbewegung, die jetzt starken Zulauf erhielt, zog 1875 in Gotha Konsequenzen durch die Vereinigung der beiden bestehenden Parteien ADAV und SDAP zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD). Gleichzeitig wurde in bürgerlichen Kreisen, v. a. vertreten von Glagau, Marr, Treitschke, ein Antisemitismus immer populärer, der als Verursacher der Krise den „seelenlosen Materialismus“ jüdischer Kreise behauptete.

Auswanderung in großem Stil: Eine wichtige Folge der wirtschaftlichen Depression war auch das Anschwellen der Auswanderungswelle, in erster Linie nach Amerika.

Architektur, Kunst und Städtebau:

Die Architektur dieser Zeit (etwa bis zur Jahrhundertwende), wird als Gründerzeitstil oder als Historismus bezeichnet. Er drückte sich in repräsentativen Bauten aus, die das gestiegene Selbstbewusstsein des reich gewordenen Bürgertums widerspiegelten. Im Unterschied zur Epoche des Klassizismus vom Anfang des Jahrhunderts wurde jetzt nicht die Antike kopiert, sondern es wurden Stilformen vieler Epochen aufgenommen, teilweise in unterschiedlichster Weise gemischt. Besonders die Romantik übte ihren Einfluss auf die Auftraggeber von Großbauten aus. Berühmt sind heute die Schlösser in Schwerin oder in Bayern, die Ludwig II. von Bayern erbauen ließ. Er trat zwar politisch fast nicht in Erscheinung, konnte aber mit Hilfe von Dotationen aus dem Welfenvermögen auf Veranlassung Bismarcks mehrere Märchenschlösser für sich allein erbauen. Er war auch ein besonderer Förderer Richard Wagners, der unter Rückgriff auf Sagen des Mittelalters seinen „Ring des Nibelungen“ komponierte. Für seine Musik hatte Wagner in Bayreuth ein Festspielhaus mit Ludwigs Hilfe errichten können, das in der Folge zum Wallfahrtsort nationaler Kultur wurde. Das Reichstagsgebäude in Berlin wurde 1884 bis 1894 im Stil der Neorenaissance erbaut. In Hamburg entstanden zu dieser Zeit das Rathaus (1884-97), mehrere pompöse staatliche Verwaltungsgebäude und eine Reihe von eindrucksvollen Straßenzügen. Durch den Hafenausbau wurden ehemalige bürgerliche und Arbeiter-Wohngebiete zu Gewerbegebiet umgewandelt und die Speicherstadt ab 1883 gebaut. Die Hafenarbeiter wurden in Vororte wie Hammerbrook und Barmbek und ganz neue Stadtteile umgesiedelt. Mietskasernen entstanden, die aufgrund des immensen Zustroms von Arbeitskräften aus dem ländlichen Umland notwendig wurden. Eppendorf und Eimsbüttel, die vorher Dörfer bzw. Villenvororte gewesen waren, wurden ab 1894 zu Stadtteilen Hamburgs. Von diesen Arbeiterwohnquartieren zogen jeden Morgen in langen Kolonnen die Arbeiter zu Fuß zu ihren Arbeitsplätzen im Hafen.

Das alte Barmstedter Rathaus in der Bahnhofstraße, zunächst als Arztvilla erbaut

In Barmstedt wurde in dieser Zeit die Bahnhofstraße neu angelegt. Als 1895 die Bahnstrecke Elmshorn – Barmstedt inklusive Bahnhofsgebäude fertiggestellt wurde, war auch die Bahnhofstraße fertiggestellt. Wie auf dem Bild zu erkennen, wurden bald repräsentative Villen sowohl auf dem oberen als auch dem unteren Ende erbaut. Das alte Rathaus entstand 1903 als Arztvilla für Dr. Oetken und diente nach dessen Tod von 1931 bis 2007 als Rathaus für die Stadt Barmstedt. Die nach Elmshorn und Rantzau führende Moltkestraße, die erst jetzt ihren Namen erhielt, nachdem sie vorher „Auf der Ohe“ geheißen hatte, wurde neu bebaut. Die meisten Häuser in beiden Straßen weisen typische Merkmale des Gründerzeitstils auf.

Bald nach der Reichsgründung wurden überall im Land – gefördert von nationalen Vereinen – Kriegerdenkmäler zur Erinnerung an die Gefallenen des deutsch-französischen Krieges aufgestellt. Sie hatten gleichzeitig die Funktion, die mit diesem Krieg erreichte nationale Einigung und den Sieg Preußens im Bewusstsein zu halten. Auch Barmstedt erhielt auf dem Rasenplatz vor der Kirche, gegenüber dem „langen Schulhaus“, ein prächtiges säulenartiges Kirchspieldenkmal. Es steht heute noch, allerdings ohne den krönenden Reichsadler mit ausgebreiteten Flügeln. Möglicherweise ist dieser – wie in Alveslohe – nach dem 2. Weltkrieg abhanden gekommen. Er wurde hier in Barmstedt allerdings nicht erneuert. Die nationalen Gefühle wurden einerseits durch solche Denkmäler, zusätzlich aber durch die neu eingeführten nationalen Feiertage angeregt. Der wichtigste wurde der Sedantag am 2. September. In allen Schulen wurden Belehrungen zu den Schlachten von 1870/71, zum Haus Hohenzollern und entsprechende Feierstunden abgehalten. Daneben wurde immer wichtiger „Kaisers Geburtstag„. Zur Zeit Wilhelms I. feierte man den 22. März, später zur Zeit Wilhelms II. den 27. Januar. Die Barmstedter Zeitung berichtet z. B. ausführlich über die den Kaisergeburtstag am 22.März 1887. Dr. Helmut Wulf, ein um die Jahrhundertwende gerade 5 Jahre alter Barmstedter Knabe, erinnerte sich später so:

„In den Schulen wurde eine kurze Feier abgehalten und die Schüler brachten Kerzen, Blumen und Eichengrün mit, um damit die Klassenzimmer zu schmücken. Träger der Veranstaltungen waren zur Hauptsache die Vereine, so Militär- und Kriegerverein, Turnverein, die Gesangvereine, Liedertafel, Männerchor und gemischter Chor von 1905. Es existierte auch noch ein Rest des Kampfgenossenvereins von 1848, und die letzten 5-6 Männer trugen ihre Fahne noch mit großem Stolz, wenn Umzüge durch die Straßen der Stadt durchgeführt wurden. (Wulf, S.284)

Das Kriegerdenkmal, auch Kirchspieldenkmal genannt, für die Gefallenen der Kriege 1870/71 vor der Kirche mit dem mächtigen Reichsadler war auch ein Denkmal der Reichsgründung nach dem deutsch-französischen Krieg

Gründung eines SDAP-Ortsvereins in Barmstedt: Schuhmachergesellen und Bauarbeiter gründeten 1874 die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands“ in Barmstedt. (Klose, BZ 09.03.1974) Damit entstand hier in der Schusterstadt eine Gruppe der „Eisenacher“, die im Jahr 1869 auf Initiative von August Bebel und Wilhelm Liebknecht in Eisenach aus verschiedenen Gruppierungen der politischen Arbeiterbewegung hervorgegangen war. Sie waren stark internationalistisch, marxistisch und antipreußisch ausgerichtet und standen damit teilweise im Gegensatz zum ADAV, der die „kleindeutsche Lösung“ unter preußischer Führung befürwortet hatte. Der Gegensatz, der sich hier zum Kult um die Preußenverehrung mit den Kriegerdenkmälern zeigte, war zumindest vor 1871 auch in bürgerlichen Kreisen Barmstedts wie im übrigen Holstein noch weit verbreitet. Allerdings waren durch die Gründung des Kaiserreichs Fakten entstanden, die nach und nach zu einer Anpassung der nationalen Position an die neue Realität zwangen. Auch in der Sozialdemokratie kam es schon ein Jahr später, im Mai 1875 in Gotha, zur Vereinigung beider Richtungen in der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands“, der SAP, und damit zu einem Kompromiss in den wesentlichen Fragen. Im Gothaer Programm, das von Karl Marx scharf kritisiert wurde, hieß es:

Auf diesem sogenannten Kettenbild von 1870 sind die sozialistischen Gegner des deutsch-französischen Krieges und Protagonisten der frühen SDAP abgebildet, die zeitweise in Haft waren

„In der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopole der Kapitalistenklasse; die hierdurch bedingte Abhängigkeit der Arbeiterklasse ist die Ursache des Elends und der Knechtschaft in allen Formen. Die Befreiung der Arbeit erfordert die Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit mit gemeinnütziger Verwendung und gerechter Verteilung des Arbeitsertrages. Die Befreiung der Arbeit muss das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber aber alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse sind.“

und im zweiten Absatz:

„Von diesen Grundsätzen ausgehend, erstrebt die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gestalt, die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit.“

Für diesen Parteitag hatte der Barmstedter Ortsverein übrigens bereits eine Mitgliederzahl von 60 angegeben, der Elmshorner Ortsverband war mit 300 der drittgrößte in Schleswig-Holstein. Bei der Reichstagswahl 1874 hatte die neue Partei 2 von 10 schleswig-holsteinischen Sitzen erobert, was ihr außer in Sachsen (6 Sitze) nur in der Rheinprovinz (1 Sitz) gelungen war. (Danker 1988, S.33)

In den Jahren 1872/73 ließ der Zimmerer Jasper Grelck ein für die heutige Barmstedter Umgebung wichtiges Waldgebiet, die Grelckschen bzw. Heeder Tannen, anpflanzen. Auf dem landwirtschaftlich nur schwer nutzbaren Boden, der eine Größe von 112 ha hat und großenteils aus Dünen besteht, entstand so am Nordufer der Krückau zwischen Lutzhorn, Heede und Heidmoor eine Landschaft, die für Generationen von Einheimischen das Landschaftsgefühl ihrer Heimat mit bestimmte. Schon kurz darauf gründete er an der Feldstraße eine Zimmerei und Sägerei.

Links auf dieser Ansichtskarte von 1909 erkennt man das Grelcksche Sägewerk in der Feldstraße, rechts sieht man die Abelsche Mühle

Bismarcks Innen- und Außenpolitik

Reichskanzler Bismarck, Kriegsminister von Roon, Generalstabschef von Moltke

Bismarcks Diplomatie: Mit dem Dreikaiserabkommen von 1873 zwischen den Monarchien Deutsches Reich, Österreich-Ungarn und Russland konnte Bismarck erreichen, dass eine Annäherung zwischen Frankreich und Russland zunächst verhindert wurde, das gerade besiegte Frankreich also isoliert blieb. Die Balkan-Krise ab 1876 ließ dieses Bündnis jedoch zerbrechen, als Russland das Osmanische Reich angriff und dabei österreich-ungarische Interessen verletzte. Der Berliner Kongress von 1878, an dem alle Großmächte und das Osmanische Reich beteiligt waren, schuf eine „Friedens“-Lösung für Südosteuropa, die im „Berliner Vertrag“ neue Grenzziehungen und Herrschaftsbereiche der konkurrierenden Großmächte auf dem Balkan vorsah. Um Russland unter Druck zu setzen, schloss das Deutsche Reich 1879 einen geheimen Defensivvertrag mit Österreich-Ungarn, den sog. Zweibund, in dem beide Seiten sich vollen militärischen Beistand bei einem russischen Angriff zusicherten. Russland erneuerte daraufhin 1881 noch einmal mit dem Dreikaiserbund den alten Vertrag, der alle drei Mächte zu wohlwollender Neutralität im Falle eines unprovozierten Angriffs durch eine vierte Macht verpflichtete. Ergänzt wurde dieses Vertragsnetz wiederum durch die Erweiterung des Zweibundes zu einem Dreibund durch die Aufnahme Italiens. Der Dreikaiserbund konnte aufgrund der zunehmenden Gegensätze zwischen Russland und Österreich-Ungarn auf dem Balkan schon 1887 nicht mehr fortgesetzt werden. Um die jetzt möglich werdende Zweifrontenlage des Deutschen Reichs zu verhindern, unterzeichneten Bismarck und der russische Außenminister im Juni 1887 ein auf drei Jahre befristetes geheimes Abkommen, den sogenannten Rückversicherungsvertrag. Damit versicherten sich beide Seiten zu wohlwollender Neutralität – im Falle eines unprovozierten Angriffs im Falle Russlands durch Österreich-Ungarn, im Falle Deutschlands durch Frankreich.

Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Sozialdemokratie: In der erstarkenden Arbeiterbewegung sah Bismarck nach Ende seines „Kulturkampfs“ gegen die Zentrums-Partei die größte innenpolitische Gefahr. Ihre politischen Forderungen nach Verkürzung der Arbeitszeit, Mindestlöhnen und Unfallschutz bedrohten die unternehmerische Freiheit aus seiner Sicht so stark, dass er repressive Maßnahmen gesetzlich durchsetzen wollte. Die Vorsitzenden der SAPD August Bebel und Wilhelm Liebknecht waren 1871 wegen ihrer Opposition gegen den deutsch-französischen Krieg und ihrer öffentlichen Sympathie für die Pariser Commune zu zwei Jahren Festungshaft wegen Hochverrats verurteilt worden. Nachdem Bismarck in einem ersten Versuch aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Reichstag mit seinen antisozialistischen Gesetzen gescheitert war, löste er nach einem missglückten Attentat auf Kaiser Wilhelm den Reichstag auf und ließ Neuwahlen durchführen, wobei er die Sozialdemokratie wahrheitswidrig der Mittäterschaft an den Attentaten beschuldigte. Der neue Reichstag verabschiedete mit den Stimmen der Konservativen und Nationalliberalen am 19. Oktober 1878 das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ (Sozialistengesetz). Bismarck sah in der Sozialdemokratie, die 1877 bereits fast eine halbe Million Wählerstimmen erhalten hatte, eine Gefahr für die bestehende Gesellschaftsordnung und entwickelte eine Reihe von Zwangsmaßnahmen, um ihren Einfluss zurückzudrängen. Bereits zwei Tage nach der Verabschiedung trat das Gesetz in Kraft. Gewerkschaften wurden generell verboten. Die Partei wurde zwar nicht verboten und konnte weiter an Wahlen teilnehmen. Aber Versammlungen, Zusammenkünfte und öffentliche Feiern wurde verboten, Presse- und Berufsverbote wurden verhängt, Mitglieder wurden verhaftet oder ausgewiesen. Die Partei entwickelte deshalb neue Organisations- und Widerstandsformen, z. B. Parteikongresse im Ausland und nicht identifizierbare Gruppen, die als Lesezirkel, Kartenspieler und Sonntagsspaziergänger getarnt waren. (Fischer, S. 168)

Ab 1883 wurde in Schleswig-Holstein das Telephon eingeführt. Kiel erhielt seinen ersten Anschluss, Flensburg 1884 und Meldorf 1885. In vielen Städten gab es allerdings zunächst noch keine Verbindung nach außen, nur innerorts. Mit der Kurbel wurde das Fräulein vom Amt gerufen.

Bismarck hatte allerdings auch erkannt, dass der sozialrevolutionären Gefahr durch eine flankierende Sozialgesetzgebung begegnet werden musste. 1883 wurde die gesetzliche Krankenversicherung für festangestellte Arbeiter eingeführt. Zu 2/3 wurden die Beiträge von den Arbeitern, zu 1/3 von den Arbeitgebern bezahlt. Auf diese Weise hatten viele Arbeiter zum ersten Mal eine realistische Chance auf ärztliche Behandlung. 1884 kam die von den Arbeitgebern zu tragende Unfallversicherung hinzu, was den im Betrieb verunglückten Arbeitern und ihren Familien zum ersten Mal unabhängig von dem Mitleid des Arbeitgebers eine Heilbehandlung und Unterstützung gewährte. Vorher standen Familien, deren Ernährer bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen war, absolut mittellos dar und hatten keinerlei Ansprüche an den Betrieb oder den Staat. 1889 kam es schließlich auch zu der Alters- und Invalidenversicherung. Die Arbeiterbewegung lehnte die Gesetze ab, da sie darin keinen Ersatz für die grundsätzliche Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur sah, die Klassengesellschaft wurde dadurch nicht abgeschafft, sondern stabilisiert. Den Liberalen gingen die Reformen zu weit, sie sahen darin einen Staatssozialismus.

Um für sie schädlichen Wettbewerb auszuschalten, kam es in verschiedenen Branchen zur Kartellbildung. Wesentlich weiter fortgeschritten waren diese Methoden in den USA. In Pennsylvania waren Ölquellen entdeckt worden, deren Öl in Raffinerien zu Petroleum (wörtliche Übersetzung für „Erdöl“) weiterverarbeitet wurde. John D. Rockefeller monopolisierte mit seiner Standard Oil die Raffinerie-Verarbeitung und später auch den Vertrieb und häufte so ein riesiges Vermögen an. Die Erfindung von Pipelines ließ zwar wieder Konkurrenz entstehen, durch deren Aufkauf kam jedoch auch dieser Markt weitgehend an Rockefeller. Erst die durch ein spezielles Gesetz 1911 erzwungene Entflechtung führte zur Aufspaltung in mehrere Gesellschaften, u.a. Exxon, deren Wachstum jedoch noch schneller vonstatten ging, da jetzt das Automobil zu einem immer höheren Verbrauch dieses fossilen Rohstoffs führte.

In allen industrialisierten Staaten entstanden jetzt Interessenorganisationen auf Arbeitgeberseite, um Forderungen gegenüber der Regierung durchzusetzen. Auf Arbeiterseite wurden gleichzeitig illegal immer mehr Gewerkschaften gegründet, um in Streiks und anderen Aktionen Forderungen gegenüber den Unternehmern durchsetzen zu können.

Das Deutsche Reich als Kolonialmacht: Das Zeitalter des Imperialismus hatte seit etwa 1870 die Welt verändert, als die europäischen Großmächte dazu übergingen, immer größere Teile der Welt ökonomisch und politisch, notfalls auch militärisch, unter ihre Kontrolle zu bringen, wobei es v.a. darum ging, die anderen Großmächte davon abzuhalten, in den „eigenen“ Territorien Interessen zu verfolgen. In Afrika hatte dieser „scramble for africa„, die Kolonisierung Afrikas, etwa 1880 begonnen. Die Erforschung des Kontinents durch Missionare und Geografen, vereint mit kommerziellen Interessen von Privatleuten in einer Zeit technologischer Fortschritte (v. a. Gewehre, Dampfschiffe, Eisenbahn) und ökonomischer Krisen hatte zu einem verstärkten Augenmerk der europäischen Regierungen auf den noch nicht verteilten „afrikanischen Kuchen“ geführt. Zur Festlegung von Spielregeln lud Bismarck im November 1884 die Großmächte ein zur sogenannten „Berliner Konferenz“ (Kongo-Konferenz). V. a. Großbritannien (Kapkolonie), Frankreich (Algerien) und Portugal (Angola) hatten bereits Teile des Kontinents in Besitz genommen und der belgische König Leopold II. betrieb unter Mithilfe des Afrikaforschers Henry Morten Stanley eine Kolonialisierung des Kongobeckens. Deutschland wiederum hatte ebenfalls mehrere Gebiete, die im Auftrag deutscher Kaufleute „erworben“ worden waren, zu Schutzgebieten erklärt. So entstanden die Kolonien Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Westafrika mit Kamerun und Togoland. Am Ende der Konferenz, zu der kein einziger Afrikaner eingeladen worden war, erhielten alle beteiligten Mächte in der Kongoakte Ansprüche auf Teile Afrikas, sicherten sich jedoch gegenseitig Freihandelsrechte zu. Das Deutsche Reich verstärkte in der Folge seine Interessen in Übersee durch „Schutzbriefe“ auch für Deutsch-Ostafrika mit zuletzt den Gebieten des heutigen Tansania, Ruanda und Burundi, Witu, Somaliküste und in der Südsee, ab 1898 auch in Kiautschou/China. So entstand bis 1914 das nach Fläche viertgrößte Kolonialreich – nach dem britischen, französischen und russischen Weltreich.

Die 1870er und 1880er Jahre in Barmstedt und Umgebung

Die neue Barmstedter Meierei von 1880 in der Königstraße, dort, wo sich heute Lidl befindet.

Im April 1875 wurde die Freiwillige Feuerwehr Barmstedt gegründet. Es gab bereits seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Pflichtfeuerwehr, bei der alle Bürger jeweils ihren Pflichtdienst zu absolvieren hatten, z. B. durch Kettenbildung, um mit Eimern aus Brunnen und Gewässern das Wasser zur Brandstelle weiterzugeben. Ein Feuerlöschbrunnen war lange Zeit von der Administratur gefordert, aber erst 1846 kombiniert mit einer Pumpe gebaut worden. Der Barmstedter Bürgerverein nahm sich jetzt an dem gerade in Kellinghusen entstandenen Freiwilligen Feuercorps ein Beispiel und schuf auch hier am Ort eine solche Mannschaft. Sie wurden technisch unterstützt durch Edm. Bochsen, den Agenten der Aachener & Münchener Feuerversicherungsgesellschaft, der zusagen konnte, dass seine Gesellschaft „eine Feuerspritze unentgeltlich anfertigen lassen wolle“. Gründungsmitglieder waren Zacherias Freudentahl, Heinrich Schlüter, Wilhelm Prange, Karl Wulff, Joachim Mohr, Heinrich Lüdemann, Jobs Sass, Fritz Brömmer, H. Röttger, Johann Wolters, F. Peters, W. Springer, N. Springer, F. Lohse, Hans Grelck, H. Stark, H. Lüdemann, und H. Wiese. Seitdem gab es ein nicht immer konfliktfreies Nebeneinander von Freiwilliger und Pflichtfeuerwehr. Ab etwa 1910 übernahm dann offenbar die Freiwillige Feuerwehr das Ruder.

1877 kaufte Brauereibesitzer Fritz Peters das alte Brauereigelände von Peter Grelck mit dem Eiskeller auf Rantzau und errichtete ein neues Gebäude, aus der die Rantzauer Schlossbrauerei werden sollte.

Das „Geburtshaus“ der Barmstedter Zeitung in der Austraße

Barmstedter Zeitung gegründet: Am 5. April 1879 gab der Buchdruckereibesitzer Anton Füßlein seine erste Ausgabe der „Barmstedter Zeitung“ heraus. Im Haus in der Austraße 3, neben der Fa. Brügmann, Klempnerei und Ínstallation, hatte er eine Buchdruckereiwerkstätte eingerichtet. Für die Obrigkeit war das Erscheinen sehr wichtig, da vorher der Ortsbüttel alle Bekanntmachungen auszurufen hatte. Sie erschien 2mal wöchentlich (Di, Do) und hatte bald mehrere hundert Abonnenten. Nach wenigen Jahren verlegte Füßlein den Betrieb in die Kirchenstraße und vergößerte das Format auf das heutige.

1880 kam es zur Gründung der Meierei Barmstedt, als zweite im Kreis Pinneberg nach Elmshorn. Sie wurde von 62 Bauern aus Barmstedt-Großendorf, Lutzhorn, Bokel, Brande, Groß- und Klein-Offenseth, Aspern, Hanredder, Bullenkuhlen, Bevern, Heede und Hemdingen am 4. Januar 1880 als Genossenschaft gegründet. Die Inbetriebnahme der Produktionsstätte in der Barmstedter Königstraße erfolgte noch im selben Jahr, am 08. November 1880. Im ersten Jahr wurden ca. 1 Million kg Milch ausschließlich zu Butter verarbeitet. Die Gründung weiterer Meiereien in der näheren Umgebung, sogar in Bokholt, Heede, Ellerhoop und Lutzhorn, führten zunächst zu einer Krise, da ganze Dörfer als Lieferanten wegfielen. Da aber bald alle Bauern in den verbliebenen Dörfern von der traditionellen Verarbeitung auf die maschinelle in der Meierei umstiegen, stieg die Zahl der Mitglieder bis 1900 auf 100 und die verarbeitete Menge von 1,25 Mill. auf 3,4 Mill. Liter. (Dössel, S. 210)

Der neue Turm der St. Nikolaikirche in Elmshorn

Propstei Rantzau wird vergrößert / Elmshorner Nikolaikirche erhält neugotischen Turm: In Köln waren 1880, 38 Jahre nach Wiederbeginn der Bauarbeiten, die seit dem Mittelalter fehlenden Türme fertiggestellt worden. Dieses und die schon lange anhaltende Diskussion über Gestalt und Standort der alten St. Nikolaikirche in Elmshorn, die seit dem 30-jährigen Krieg keinen Turm mehr hatte, führte 1880 schließlich zur Entscheidung, einen Turm im neugotischen Stil zu bauen. Schon 1860 hatte Propst Harding an die Königliche Administratur zu Rantzau in einem Brief geschrieben: „Eine entbehrliche Zierde…ist ein Turm freilich“, wenngleich eine schöne, wie man an der Barmstedter Kirche sehe. Das wichtigere Argument aus seiner Sicht war aber, dass man die Glocken von entfernteren Häusern aus kaum hören konnte. (Voigt, S.99) Die Idee andererseits, eine neue Kirche an einem anderen Standort zu bauen, damit der Marktplatz in der Mitte der Stadt wirklich zu einem Marktplatz werden konnte, wurde nur von einer Minderheit vertreten. Der Entwurf stammte vom Architekten Hillebrand und war ganz von dem seit 1861 gültigen Regulativ für Kirchenneubauten geprägt, der bestimmte, dass die neuen Sakralbauten „im sogenannten germanischen (gothischen) Styl“ zu bauen seien. Die Bauarbeiten gingen innerhalb eines Jahres vonstatten und ließen einen Turm entstehen, der mit knapp 55 Metern das damals höchste Gebäude der Stadt darstellte.

Auch in der Barmstedter Heiligen-Geist-Kirche gab es eine Modernisierung. Sie erhielt 1886 neue Petroleum-Leuchter. Vorher hatte es bei abendlichen Veranstaltungen nur Kerzenlicht gegeben.

Durch eine neue Konsistorialverordnung wurden die Propsteibezirke in der Provinz Schleswig-Holstein neu eingeteilt. Die Propstei Rantzau erhielt zusätzlich zu den Kirchspielen Barmstedt, Hörnerkirchen und Elmshorn (der alten Grafschaft Rantzau) die Kirchspiele Glückstadt, Hohenfelde, Horst, Kollmar, Neuendorf, Stellau und Kellinghusen – 11 Kirchen mit 18 Predigern. Der Begriff Kirchspiel wurde ersetzt durch Kirchengemeinde. Die Aufsicht über das Schulwesen lag weiterhin bei der Kirche.

Bürgermeister Johann Otto Fr. Rode (1881-1905), Apotheker

1887 wurde zum ersten Mal das bis heute aus dem Leben der Stadt nicht weg zu denkende Barmstedter Kinderfest veranstaltet. Die Initiative war von den Lehrern der Knaben- und Mädchenschulen unter Leitung des Rektors Tank ausgegangen. „In den ersten Jahren von 1887 ging die gesamte Schuljugend an einem meist heißen Julitag nach Voßloch auf die Wiese und am Abend in den Saal zum Tanz. Auf der Wiese war Sackhüpfen, Eierlaufen angesagt und dabei spielte jede Klasse König und Königin aus. Wie schon erwähnt, waren Rektor Friedrich Tank und sein Lehrer-Kollegium die Ausrichter, aber auch hier waren bereits Bürger als Helfer dabei. Sicherlich vorerst ganz freiwillig und unaufgefordert, einfach aus der Erkenntnis, daß ein Sack Flöhe leichter zu hüten ist, als eine fröhliche Kinderschar. Gemeinsam waren die Kinder gutbehütet im Festtrubel. Für das leibliche Wohl sorgten Barmstedts Frauen mit Kakao, Kaffee und Kuchen.

Rodesche Apotheke, Neubau 1806

Die Wilhelminische Ära beginnt

Aus dem Hochrad entwickelte sich etwa ab 1890 das Niederrad, das wesentlich leichter zu handhaben und schneller war.

Im März 1888 starb Wilhelm I, deutscher Kaiser seit 1871 und preußischer König seit 1861. Die patriotische Verehrung in bürgerlichen Kreisen für ihn, die sich mit monarchistisch-nationaler Einstellung verband, drückte sich in über 1000 Kaiser-Wilhelm-Denkmälern im deutschsprachigen Raum aus, die zwischen 1867 und 1918 errichtet wurden. Auch in der Nähe Barmstedts, in Alveslohe, befindet sich heute noch das mit einem Reichsadler geschmückte monumentale Denkmal auf Wilhelm I., gestiftet vom Alvesloher Verschönerungsverein im Jahre 1904. Wesentlich früher noch, dafür aber nur bis 1948, wurde der 1895 eröffnete Nord-Ostsee-Kanal dem verstorbenen Kaiser zu Ehren Kaiser-Wilhelm-Kanal genannt. Der 1869 eingeweihte Nordsee-Kriegshafen am Jadebusen bekam entsprechend den Namen Wilhelmshaven. Nachfolger wurde sein Sohn Friedrich Wilhelm als Friedrich III., der aber schon nach 99 Tagen im Amt starb.

Neuer Kaiser und preußischer König wurde nun dessen 29-jähriger Sohn Friedrich Wilhelm als Wilhelm II.. Dieser Wechsel auf dem Thron hatte auf Grund der Reichsverfassung und der dominierenden Rolle Preußens politisch eine große Bedeutung, da der Kaiser den Kanzler einsetzte und damit quasi die Richtlinien der Politik bestimmte. Viele Schleswig-Holsteiner hatten gegenüber Bismarck und Wilhelm I. eine kritische Distanz, einerseits natürlich diejenigen, die sozialdemokratisch dachten und empfanden, denn durch die immer noch geltenden Sozialistengesetze waren sie zu Staatsfeinden erklärt worden, andererseits diejenigen, die als Anhänger des Augustenburger Herzogs die Eigenständigkeit Schleswig-Holstiens im Deutschen Reich befürworteten und die 1866 erfolgte Einverleibung als preußische Provinz kritisierten. Für diese war es ein Zeichen der Versöhnung, dass der neue Kaiser mit Auguste Victoria, der Tochter jenes Herzogs von Augustenburg, verheiratet war.

Bevölkerungsexplosion auch in Barmstedt: Wie überall im Land hatte auch im Flecken Barmstedt die Bevölkerung stark zugenommen. Von 1845 bis 1895, also innerhalb von knapp zwei Generationen, stieg die Einwohnerzahl von 2152 auf 3995, also um 86 %. Dieses Wachstum war typisch für das ganze Land und alle Regionen, die von dieser zweiten Phase der Industrialisierung betroffen waren.

Jahr der ZählungEinwohner
18261640
18351849
18452152
18953995
19094678
Bevölkerungszuwachs Barmstedt und Großendorf

Es spielte sich hier das Gleiche ab, wie heute in vielen Entwicklungsländern. Die Geburtenrate war noch hoch, durchschnittlich bekam eine Frau 1871 fünf Kinder (1), deren Sterblichkeitsrate aber noch sehr hoch war: 25% von ihnen starben bereits im ersten Lebensjahr (2). Die Lebenserwartung lag 1871/80 für Jungen nur bei 35,6 Jahren, für Mädchen bei 38,5 Jahren. Dieses war gegenüber dem 18. Jahrhundert allerdings ein Fortschritt, als nach Schätzung P. Marschalcks durchschnittlich nur 30 bzw. 32,5 Jahre erreicht wurden, nur 50 % hatten überhaupt das Erwachsenenalter erreichen können. (3) Von diesen wurden manche aber durchaus alt. Durch verbesserte Ernährung, bessere Hygiene und medizinische Versorgung war die Sterblichkeit bereits stark zurückgegangen. Inzwischen waren Kampagnen für eine bessere Gesundheitsfürsorge angelaufen, die die Sauberhaltung von Straßen und Gewässern betrafen. V. a. die Trinkwasserversorgung aus Brunnen war ins Visier geraten sowie der Umgang mit Fäkalien, aber auch die Qualität der Lebensmittel. Hygieniker hatten auch die überfüllten Wohnungen der armen Leute als Quelle von Krankheiten ausgemacht.

Für die Aufnahmen auf dieser menschenleeren Ansichtskarte hat der Fotograf sicherlich lange warten müssen, bis die Straßen entvölkert waren. So wirken die Motive seltsam entrückt in einer von Bevölkerungszunahme geprägten Zeit, in der die neuen bürgerlichen Gebäude in ihrer Pracht deutlich abstachen von den älteren herrschaftlichen.

Es hatte wichtige Gründe für die hohe Kinderzahl gegeben: Einerseits bedeutete auf dem Land und in den kleinen Handwerksbetrieben Nachwuchs billige Arbeitskraft und Altersversorgung, andererseits mussten in der vorindustriellen Gesellschaft hohe Kinderzahlen erreicht werden, damit überhaupt eine häufig durch Kriege, Epidemien, und Hungerkatastrophen stark dezimierte Bevölkerung überleben konnte. Diese Ereignisse waren stark zurück gegangen. Außerdem wurde die Sterblichkeit ab der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts wiederum reduziert durch bessere und sichere Ernährung: neue Nutzpflanzen, v. a. die Kartoffel, erweiterte Viehhaltung, v. a. die Milchwirtschaft, Straßen- und Eisenbahnbau, die zu einer schnelleren Verteilung der Lebensmittel beitrugen. Trotz der jetzt auch größer werdenden Familien änderte sich die Einstellung zum Wert des Kindersegens vorläufig noch nicht.

Die Kinderzahl der Gesellschaft hatte immer schon auch von den wirtschaftlichen Bedingungen abgehangen, da sie an die Zahl der Eheschließungen gekoppelt war. Dienstboten konnten häufig nicht heiraten, Kinder aus bäuerlichen Familien nur, wenn sich eine passende Partie ergab. Eine Eheschließung war also stark reglementiert, so dass das normale Heiratsalter bei Männern bei 28 Jahren, bei Frauen erst bei 25 (Deutschland) (3), in Preußen sogar erst bei 27,08 Jahren lag. (4) Die sozialen Bedingungen änderten sich hier jedoch durch die industrielle Revolution stark und zunehmend radikal. Bäuerliche Arbeitskräfte auf dem Land wurden durch verbesserte Produktivität arbeitslos und versuchten in den Fabriken bzw. gewerblichen Betrieben Arbeit zu finden. Die Heiratsbeschränkungen fielen nach und nach.

Barmstedt gehörte zu den Orten in Holstein, die von den demografischen und wirtschaftlichen Entwicklungen stark betroffen waren. Zwar gab es nur eine Fabrik, die Tuchfabrik Stolzenwald, später Wachsfabrik Schlickum, andererseits eine starke Konzentration an Schuhmacher- und Schlachtereibetrieben, die für den jetzt durch den Zollverein erleichterten Export produzierten. Aus diesem Grunde besaß der Flecken eine starke Anziehungskraft für Menschen aus der Umgebung.

Diakonissen übernehmen Krankenfürsorge und Warteschule: Ende 1887 hatte sich das Fleckenskollegium dafür ausgesprochen, eine kostenlose häusliche Krankenpflege und eine Warteschule für Vorschulkinder einzurichten. Zu diesem Zweck entstand im Januar 1888 der Verein für weibliche Diakonie. Es bestand offensichtlich eine Notwendigkeit, für die vielen Armen im Flecken, die sich ärztliche Versorgung nicht leisten konnten, schon gar keine professionelle Heilbehandlung in einem Krankenhaus, eine Fürsorge in solchen Notfällen zu schaffen und gleichzeitig eine Entlastung der Familien in der Kindererziehung.

Diakonissenheim und Warteschule. Hier befindet sich heute der Ev. Kindergarten Bahnhofstraße.

Seit 1874 gab es dafür auch ein Angebot durch das Diakonissenmutterhaus in Flensburg. Hier wurden Diakonissen in Krankenpflege und Kindererziehung ausgebildet und ihr Einsatz in Gemeinden organisiert. Diese Frauen erhielten kein Gehalt, nur ein Taschengeld, und hatten sich durch ihren Eintritt in das Mutterhaus zu einem Leben in striktem Gehorsam, Ehelosigkeit und christlichem Dienst am Mitmenschen verpflichtet. Sie wurden durch den Vorsteher entsandt und erhielten von der Station, in der sie arbeiteten, Wohnung und Verpflegung gestellt. Sie waren immer deutlich an ihrer schwarzen Tracht und weißer Haube zu erkennen.

Die Wohnverhältnisse für die großen Handwerker- und Arbeiterfamilien waren in den meist kleinen Häusern sicherlich teils katastrophal, besonders die sanitären Einrichtungen, die Trinkwasserversorgung aus teils unbedeckten Brunnen und die Wohnräume, die oft gleichzeitig zum Wohnen, Schlafen und Arbeiten genutzt werden mussten, werden nicht anders als in vergleichbaren Orten gewesen sein: für Krankheitserreger aller Art ein idealer Ausbreitungsort. Es gab zwar seit Beginn des Jahrhunderts Arzt und Apotheke in Barmstedt, was für wohlhabende bürgerliche und bäuerliche Familien ein großer Fortschritt war. Aber arme Familien konnten durch Krankheiten oder Verletzungen leicht in existentielle Notlagen geraten, denn die neu eingeführte gesetzliche Kranken- und Unfallversicherung gab es nur für fest angestellte Arbeiter. Ein Krankenhaus gab es in Barmstedt noch nicht.

Darum war das Ziel des Vereins außerordentlich überzeugend. Über die neue Barmstedter Zeitung wurden die Bürger zum Eintritt in den Verein aufgerufen. Der Vorstand wurde wegen der öffentlichen Aufgabe durch die Pastoren, Bürgermeister und Vertreter des Vereins besetzt. Erster Vorsitzender wurde Pastor Andrée, stellv. Vorsitzender Bürgermeister (und Apotheker) Otto Rode. Die finanziellen Mittel wurden durch Spenden, kirchliche und kommunale Zuschüsse eingesammelt, so dass als „Station“, dem Wohnhaus für die Diakonissen und die Warteschule (Kindergarten), ein Haus in der Austraße bezogen werden konnte. Der Wassermüller Johs. Bornholdt stiftete allerdings schon bald ein Grundstück, so dass der Bau des heutigen Gebäudes in der Bahnhofstraße 20 beginnen konnte. Da es diese Straße allerdings noch gar nicht gab, führte zunächst nur ein Fußweg zu dem bereits 1890 fertig gestellten Haus dorthin.

Am 20. März 1890 wurde Bismarck von Wilhelm II. als Reichskanzler entlassen, woraufhin sich dieser verärgert nach Friedrichsruh im Sachsenwald bei Hamburg zurückzog. Sein Nachfolger Caprivi, vorher Chef der deutschen Admiralität, steuerte mit dem Kaiser einen „Neuen Kurs“. Gleich eine Woche nach Bismarcks Sturz wurde der geheime Rückversicherungsvertrag mit Russland gekündigt und eine Annäherung an England begonnen. Russland nahm daraufhin engere Beziehungen zum bisher isolierten Frankreich auf und schloss mit ihm 1894 den geheimen Zweiverband, ein Defensivbündnis gegen den Dreibund. Damit war die Grundlage für die Mächtekonstellation gelegt, die schließlich in den Ersten Weltkrieg führte. Deutschland wiederum suchte die Nähe zum Vereinigten Königreich, das seit 1815 in seiner „splendid isolation“ sich aus den kontinentalen Konflikten weitgehend herausgehalten und durch sein weltweites Handelsimperium – gekoppelt mit der von England ausgehenden Industrialisierung – ökonomisch weltweit führend geworden war. Beide Mächte traten jetzt in Verhandlungen ein über die Abgrenzung kolonialer Interessen und die Insel Helgoland in der Deutschen Bucht. Wilhelm II. verfolgte mit der Eingliederung der Insel einen Jugendtraum. In Ostafrika war es andererseits zu einem gefährlichen Interessenkonflikt gekommen. Das Deutsche Reich hatte die von Carl Peters „erworbenen Gebiete“ zwischen Tanganjika-/Viktoriasee und dem Küstenstreifen, der zum Sultanat Sansibar gehörte, zum Schutzgebiet erklärt, der Sultan von Sansibar hatte seinen Küstenstreifen auf 50 Jahre an die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft verpachtet und es hingenommen, dass ein deutsches Expeditionsheer einen Sklavenhändleraufstand niederschlug. Die Engländer waren allerdings alarmiert durch das weitere Vordringen von Carl Peters nach Uganda zum oberen Nil, denn dieses Gebiet war jetzt vom Afrikaforscher Stanley für England reklamiert worden. Im Helgoland-Sansibar-Vertrag verzichtete das Deutsche Reich auf das Protektorat über Sansibar, das Witu- und Somaliland sowie auf alle Ansprüche an Uganda. Dafür verzichtete Großbritannien auf Helgoland und akzeptierte die Kolonie Deutsch-Ostafrika. Den Engländern wurde wiederum durch dieses Gebiet eine Eisenbahn-Verbindungslinie Kapstadt-Kairo zugestanden. Verwaltungstechnisch kam die neuerworbene Insel jetzt in eine Nachbarschaft zu Barmstedt, denn Helgoland wurde dem Kreis Pinneberg zugeordnet.

1890 wurde die spätere „Mädchenschule“ „Auf dem Acker“ gebaut

Wachsende Schülerzahlen machen Schulneubau notwendig: Die zunehmende Bevölkerung und die größer werdenden Familien hatten natürlich auch für die Schulen zur Folge, dass die bisherigen Klassen immer größer wurden und immer wieder geteilt werden mussten. 1867 hatten die Elementarklassen 140 Knaben und 130 Mädchen, 1871 bereits 249 Knaben und 226 Mädchen. 1890 wurde aus diesem Grund ein neues 6-klassiges Schulhaus, nicht weit vom bisherigen, nämlich auch „Auf dem Acker“ gebaut. Dieses Gebäude wurde später die Mädchenschule, übernahm zunächst aber die Aufgabe der Elementarschule, deren Räume jetzt anders benutzt werden konnten.

Aus der Schule wird ein Bürgermeisteramt: Bis 1892 hatte der jeweilige Bürgermeister alle Amtsgeschäfte von zu Hause aus erledigen müssen. Nun war aber durch den Schulneubau Raum entstanden, der von der Kommune genutzt werden konnte. Deshalb erhielt die Fleckensverwaltung im ehemaligen Schulhaus an der Reichenstraße ein Büro, das bis 1931 das Bürgermeisteramt blieb. Das Haus stand noch bis in die 1970er Jahre und musste dann dem heutigen Parkplatz an der Einmündung der Feldstraße weichen.

1892 wurde auch der neue Friedhof am Meßhorn eingeweiht.

Elementar-Schulhaus in der Reichenstraße

Barmstedt, Großendorf und Rantzau vereinigen sich zur Stadt

Neben- und Durcheinander von drei Gemeinden wird 1894 beendet: Das seit 1754 bestehende Nebeneinander der beiden selbständigen Kommunen Barmstedt und Großendorf war durch die demografischen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen inzwischen zu einem Hindernis der weiteren Entwicklung geworden. Barmstedt als Handwerkerflecken war vom Großendorf als Bauerndorf einerseits fast eingekreist, andererseits aber durch die Ausgliederung der fünf Bauernhöfe auf Barmstedter Gebiet an Großendorf fast schachbrettartig unterteilt. Straßen-, Wege- und Wohnungsbau, Schulunterhaltung und die Steuererhebung waren dadurch sehr kompliziert.

Barmstedt, Großendorf und Rantzau auf der offiziellen Flurkarte von 1887

„Das eigentliche Barmstedt, d. h. die geschlossene Bauweise – soweit man diesen Ausdruck für jene Zeit anwenden kann – erstreckte sich von der Austraße über die Reichen- und Chemnitzstraße zum Markt und darüber hinaus in die Königstraße bis etwa zur alten Post [etwas hinter der heutigen Kreissparkasse], sowie den ganzen Kuhberg hinauf. Alle übrigen Straßen wie Hamburger Straße, Marktstraße, Mühlenstraße, Neuestraße, Große Gärtnerstraße und Brunnenstraße waren im Anfang des Ausbaus begriffen und hatten außer wenig vereinzelt stehenden älteren Bauten nur im Anschluss an die oben genannten Hauptstraßen ein paar Häuser in geschlossener Reihe. Nördlich der Feldstraße, oder sagen wir besser: nördlich der heutigen Bahnlinie konnte damals von einer Bebauung nicht die Rede sein, wie auch die ganze Bahnhofstraße zu jener Zeit noch Acker- und Weideland war. Nur die Hauptstraßen trugen eine feste Decke; es war die alte Katzenkopf-Pflasterung. Ein einheitlich gepflasterter, durch Bordsteine abgegrenzter Bürgersteig war noch nicht vorhanden. Seit dem Jahre 1874 gab es während der dunklen Jahreszeit die Petroleum-Straßenbeleuchtung.“ (Dössel, BZ-Artikel vom 5.4.1954)

Die Gemeindevertretungen Barmstedts und Großendorfs einigten sich 1894 darauf, zu einer Kommune zusammenzuwachsen. Am 2. Juli reichte der Flecken Barmstedt beim Landrat ein Gesuch ein, fortan den Titel „Stadt“ tragen zu dürfen, da durch die Eingemeindung Großendorfs und Rantzaus die Einwohnerzahl auf 3700 wachsen würde. Damit liege sie doch erheblich über der Größe anderer Städte der Provinz. Allerdings wollte das Fleckensverordneten-Collegium nicht die Verwaltungsänderungen durchführen, die nach der Städteordnung notwendig wären. Besonders wurde darüber verhandelt, ob die Aufwandsentschädigung für den Bürgermeister pensionsfähig sein sollte oder nicht. Bürgermeister Rode vertrat gegenüber dem Regierungspräsidium die ihn selbst benachteiligende Position seines Collegiums. Der Beschluss über das neue Ortsstatut und damit über den Titel „Stadt“ kam schließlich am 27. März 1896 zustande. Allerdings legte sich der Flecken Barmstedt bereits nach der Eingemeindung von Großendorf eigenmächtig den Titel Stadt schon am 1. April 1895 zu.

Claudia Kollschen und Peter Steenbuck haben zu Weihnachten 2014 diese sehr gut recherchierte und illustrierte Geschichte von Barmstedt als Schuhmacherstadt herausgegeben.

Barmstedt Schuster- und Handwerkerstadt: Die meisten Bewohner der neuen Stadt waren Handwerker (nach Dössel 74 % der männlichen erwachsenen Bevölkerung), und unter ihnen waren die Schuhmacher weitaus die zahlreichsten. „Es war keine Seltenheit, dass in einem Hause drei oder vier selbständige Schuhmacher wohnten. Im Jahre 1864 hatte man deren 161 gezählt, dazu 231 Gesellen und Lehrlinge.“ (Dössel, BZ 1954) Insgesamt gab es demnach ca. 400 Schuhmacher, denen allerdings bald Konkurrenz durch Fabriken auch in Barmstedt erwuchs. Noch war allerdings das zünftige Handwerkswesen vorherrschend und damit auch die Tatsache, dass die Meister und Gesellen auf ihrer Wanderschaft herumkamen und fortschrittliche Ideen mitbrachten. Gleichzeitig waren auch viele Gesellen für kurze Zeit auf ihrer Wanderschaft im Ort, wohnten während dieser Zeit entweder beim Meister, zur Miete oder in einer Handwerksherberge. Die Arbeitszeit betrug damals täglich 12 bis 14 Stunden, abhängig weitgehend vom Tageslicht, da für viele Arbeiten der trübe Schein von Kerzen oder Petroleumlampen nicht ausreichte. Nachts lief der Nachtwächter mit der Knarre durch die Straßen und nur ein „Gassenvogt“ als Polizist sorgte für die öffentliche Ordnung. Allerdings gab es keinen „Büttel“ oder „Ausrufer“ mehr, der öffentliche Bekanntmachungen mit einer Glocke ankündigte und und dann überall laut verkündete, denn die „Barmstedter Zeitung“ von Anton Füßlein hatte 1879 diese Rolle übernommen.

Barmstedt erhält Bahnanschluss: Barmstedt hatte im Jahre 1843 im Wettbewerb mit Elmshorn den Kampf um die Streckenführung der Bahnlinie Altona – Kiel verloren. Der damalige Eisenbahnstreit hatte noch lange das Verhältnis der beiden Nachbargemeinden belastet. Allerdings waren jetzt, also 50 Jahre später, neue wirtschaftliche Bedingungen entstanden, die eine Gleisanbindung der neu entstandenen Stadt Barmstedt an das Schienennetz sinnvoll erscheinen ließen. Schon in den 50er Jahren waren Überlegungen für einen Gleisanschluss gemacht worden, aber wegen der wirtschaftlichen Entwicklung der 80er Jahre wurden neue Planungen eingeleitet. Die Alternativen einer Verbindung von Kaltenkirchen über Barmstedt nach Altona oder einer Kleinbahn von Elmshorn nach Barmstedt wurden lange Zeit hin und her gewältzt, dann entschied man sich für die letztere. Vorstände und Komitees wurden gegründet und das Projekt wurde allmählich realistisch. 1894 wurde dann die Elmshorn-Barmstedter-Eisenbahn-Aktiengesellschaft gegründet und im Jahre 1895 gab es den ersten offiziellen Spatenstich für den Bau der Strecke. Die fertiggestellte Strecke war zehn Kilometer lang und umfasste auch noch die Zwischenhalte Brunnenstraße, Vossloch, Bokholt, Sparrieshoop und Sibirien (Langenmoor). In einer großen Eröffnungszeremonie lief am 15. Juli 1896 der erste Zug um Punkt 12 in den Barmstedter Bahnhof ein. Zum Fuhrpark der Betreibergesellschaft gehörten zwei zwei-achsige Dampflokomotiven, fünf Personenwagen und 14 Güterwagen, wovon zwölf staatlich und zwei privat waren. Anfangs durften die Züge mit einer maximalen Geschwindigkeit von 25 km/h fahrens, jedoch wurde diese bald auf 50km/h erhöht. In der Zeit der Kleinbahn von 1896 bis 1907 stieg der Umsatz der Eisenbahngesellschaft, sodass die Einnahmen und Ausgaben gegen Ende sich verdoppelt hatten. Die ausführliche Geschichte der Elmshorn-Barmstedter Eisenbahn sowie ihrer späteren Erweiterung, erarbeitet im Geschichtsprofil des Barmstedter Gymnasiums, ist hier zu finden.

Der erste Zug fährt am 15. Juli 1896 in den neuen Barmstedter Bahnhof ein

1899 nimmt die Gasanstalt der Stadt Barmstedt die Versorgung der Stadt mit Leuchtgas auf.

1892 war die „Rantzauer Brauerei“ von Peters in Konkurs gegangen. Der Barmstedter Maurermeister Handorff erwarb die Gebäude und gründete jetzt die „Rantzauer Schloßbrauerei Barmstedt, Handorff & Co.“, verkaufte aber schon 1902 an den süddeutschen Bierbrauer Wilhelm Feldhoff. Dieser umtriebige Unternehmer machte aus dem Betrieb die erfolgreiche Rantzauer Schloßbrauerei, erweiterte die Anlagen und baute sein heute noch stehendes Wohn- und Verwaltungsgebäude neben die „1000-jährige Eiche“. Der Komplex bestand von jetzt an aus Sudhaus, Lagerhalle mit Eiskeller, Wohnhaus und Pferdestall. Das Eis wurde aus dem Mühlengraben und von den Auwiesen geholt. Im Ersten Weltkrieg ging der Umsatz, auch wegen fehlender Rohstoffe, stark zurück, so dass 1917 der Betrieb von der Bavaria und St. Pauli-Brauerei in Hamburg übernommen wurde, die bereits die Elmshorner „Exportbrauerei“ geschluckt hatte. Bis 1923 wurde am Barmstedter Standort noch Bier hergestellt, danach nur noch Hamburger Bier abgefüllt und vertrieben. Erst 1983 wurde der Betrieb ganz eingestellt und die Gebäude privat verkauft.

Die Freiwillige Feuerwehr schafft eine von Pferden gezogene Drehleiter an.

1907 wird der Eisenbahnbetrieb der EBOE nach Bad Oldesloe erweitert.

Die neue Knabenschule (Ansichtskarte)

1905 Bau der Knabenschule in der Schulstraße.

1912 Gründung des F. C. Rantzau, Neugründung 1945 als Spiel- und Sportverein = SSV Rantzau

1912 Museum entsteht in Barmstedt (in der ehemaligen Präparandenanstalt am Markt)

Damals: das neue Krankenhaus auf einer Ansichtskarte, heute: Victor-Andersen-Haus, die Jugendbildungsstätte des Kreisjugendrings Pinneberg

1914-16 Bau des Krankenhauses: Bereits 1911 hatte die Gemeindevertretung – nach fast 20-jähriger Diskussion – grundsätzlich die Errichtung eines örtlichen Krankenhauses beschlossen. Bisher waren Sieche und Kranke zu Hause oder im Armenhaus in der Brunnenstraße behandelt, versorgt und sogar operiert worden. Der Gesamtarmenverband Barmstedt der Grafschaft Rantzau war entstanden, um dieses System zu unterstützen. Durch ein Legat der Geschwister Kruse aus der Chemnitzstraße war der Krankenhausbau in der Größenordnung von damals 100.000 Goldmark möglich geworden. Errichtet wurde es von 1914 bis 1916 von dem Barmstedter Bauunternehmen Kröger und Schlüter. Es war bei seiner Fertigstellung bereits modern mit einer Gasbeleuchtung und Zentralheizung ausgestattet. Als es am 9. August 1916 eingeweiht wurde, hatte der Weltkrieg bereits Millionen von Kriegsopfern gefordert und auch in Barmstedt war deshalb der Neubau gleich als Lazarett vorgesehen worden. 40 bis 50 Betten standen für die Patienten zur Verfügung, die von den Praktischen Ärzten in Barmstedt und Umgebung behandelt und von Flensburger Diakonissen gepflegt wurden. (Doß)

1914 Erster Weltkrieg beginnt mit gegenseitigen Kriegserklärungen zwischen Österreich-Ungarn und Serbien, Deutschland und Russland, Frankreich, Großbritannien

1915 beginnt die Stromversorgung in Barmstedt durch die Stadtwerke. Die Kirche erhält 1916 zum ersten Mal eine elektrische Beleuchtung. Die Freiwillige Feuerwehr erhält die erste von Pferden gezogene Motorspritze.

538 Barmstedter werden insgesamt zum Militär eingezogen. (Schröder, S.39)

1916 wird Barmstedt ans Telefonnetz angeschlossen.

1918 Die Bilanz des Krieges sind 10 Mill. Tote, 25 Mill. Kriegsgeschädigte. Die Friedenskonferenzen führen zur Neuordnung Europas und des Nahen Ostens mit Verkleinerung des Deutschen Reichs und hohen Reparationszahlungen, Auflösung Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reichs.

Im Landesteil Schleswig wird 1920 eine Volksabstimmung über die Zugehörigkeit zu Dänemark oder Deutschland durchgeführt. Seitdem ist die heutige Staatsgrenze völkerrechtlich verbindlich festgelegt.

Literatur

  • Barmstedt 100 Jahre. Hrsg.: Stadt Barmstedt. Mit Beiträgen von Solveig Schönfelder, Heinz Starken, Rudolf Schröder, Harry D. Schurdel, Barmstedt 1995
  • Robert Bohn: Geschichte Schleswig-Holsteins, München 2006
  • Brockmann, J.J.: Tagebuchblätter, veröffentlicht in der Barmstedter Zeitung
  • Danker, Uwe: Die Geburt der Doppelstrategie in der „Roten Hochburg“. Arbeiterbewegung in Schleswig-Holstein 1863-1918, in: Demokratische Geschichte Bd. 3 (1988)
  • Christian Degn: Schleswig-Holstein – eine Landesgeschichte, Neumünster 1994
  • Hans Dössel: Barmstedt – Geschichtliche Schau, Hrsg. Stadt Barmstedt, Husum 1988
  • Brigitte Doß: Einst wurden die Kranken in Barmstedt zu Hause operiert, BZ 19.07.1980
  • Wilhelm Ehlers: Geschichte und Volkskunde des Kreises Pinneberg, Elmshorn 1922, Nachdruck 1977
  • Karl-Rudolf Fischer: „gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ – Über die Abgeordneten-Verhaftungen in Kiel und Neumünster 1883, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte, Bd. 116, Neumünster 1991, S. 167172
  • Jan-Holger Frank: Eisenbahn und Bahnhof in Elmshorn 1840-1960, in: Beiträge zur Elmshorner Geschichte I, Elmshorn 1987
  • Gerhard Glismann: Das Reihergehölz. Selbstverlag Barmstedt 2007
  • Hans Schultz Hansen: Demokratie oder Nationalismus – Politische Geschichte Schleswig-Holsteins 1830-1918, in: Ulrich Lange(Hrsg.): Geschichte Schleswig-Holsteins…
  • Rolf Klose: 100 Jahre SPD in Barmstedt. Kurzer geschichtlicher Rückblick – 1911 schon 188 Mitglieder, Barmstedter Zeitung 9. März 1974
  • Ulrich Lange(Hrsg.): Geschichte Schleswig-Holsteins. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neumünster 2003
  • Bernhard Theilig: Die sieben Epochen in der Geschichte unserer engeren Heimat. Ein Überblick, in: Jahrbuch für den Kreis Pinneberg 1999
  • Bernhard Theilig: Die Heiligen-Geist-Kirche in Barmstedt und ihre Geschichte. in: Jahrbuch für den Kreis Pinneberg 1980
  • Helmut Trede: Schlossinsel Rantzau. Ein geschichtlicher Rückblick. Im Selbstverlag 2011 (Zu erhalten u. a. in der Buchhandlung Lenz)
  • Helmut Trede: Die Hörner Dörfer – Aus der Geschichte von Bokel, Bokelseß, Brande-Hörnerkirchen, Osterhorn und Westerhorn (Selbstverlag 1989)
  • David van Reybrouck: Kongo. eine Geschichte, Berlin 2012
  • Bernahrd Theilig: Diakonieverein Barmstedt, in: Dössel, Barmstedt – Geschichtliche Schau, S. 302ff
  • Kurt P. Wittrahm: Die Geschichte des Barmstedter Kinderfestes in drei Törns, in: 1887 – 1987 100 Jahre Barmstedter Kinderfest (Broschüre)
  • Dr. Helmut Wulf: Barmstedt um die Jahrhundertwende, in: Dössel 1988
  • Harm-Peer Zimmermann: „…schmeiß‘ die Preußen aus dem Land!“ Die demokratische und augustenburgische Opposition in Schleswig-Holstein 1863-1881. (Beirat für Geschichte)

Verfasser: Michael Theilig